Wie schnell…Vorurteile im Alltag

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Wie so oft wartet eine Menschenkolonne an Kasse Nummer 1. Wie so oft sind Kassen 2 – 4 unbemannt.

“Könnten Sie eine Kasse öffnen?”, ruft ein Herr leicht verärgert, als er anstehen muss.
Die Kassiererin hebt ihren Kopf und, das Ende der Kolonne nicht sehend, greift gelangweilt zum Lautsprechertelefon:
“Kasse 3 bedienen.”

Niemand kommt, und die Warteschlange an Kasse 1 wird länger.
“Bitte”, sagt eine Frau.
“Was?”, fragt die Kassiererin verwirrt.
“Sie haben vergessen ‘bitte’ zu sagen: ‘Bitte Kasse 3 bedienen’”, antwortet die Frau mit einem breiten Lächeln.

Das Gesicht der Kassiererin verfinstert sich. Wortlos schiebt sie die Artikel über die Scannerkasse, bis auf dem Fliessband der Warentrenner zu ihr stösst. Dann murmelt sie die Summe, die der vor ihr stehende Kunde zu bezahlen hat. Während der Kunde sein Geld zählt, läuft ein Mann hektisch Richtung Kasse und fragt schon von Weitem:
“Kann bezahlen?”

Dabei schwenkt er irgendetwas Kleines in der Hand. Als die Wartenden den dunkelhäutigen Mann erblicken, rücken sie näher zusammen, um ihm den Zugang zur Kasse zu verunmöglichen. Obwohl niemand seine/ ihre Gedanken offen ausspricht, ist das Misstrauen der Menge greifbar:
Arbeitet dieser Mann überhaupt?…Denkt er, wir hätten mehr Zeit?…Für wen hält er sich?…Sicher kein Zug, den er nehmen muss…

Da winkt ihm die Frau mit dem breiten Lächeln, deren Artikel als nächste an der Reihe sind, nach vorne zu kommen. Sich zur Kassiererin drehend, sieht sie, dass Frau Kassiererin bereits einen Orangensaft zum Ablesen in der Hand hält. ”Stopp” ruft die Frau noch, doch schon hört man ein lautes “Piep.” Der Preis des Orangensaftes wurde soeben registriert.

“Sie hätten den Mann nach vorne lassen können”, sagt die Frau leicht entsetzt zur Kassiererin.
“Ich habe Sie zu spät gehört. Nun kann ich nichts mehr machen.”
Der dunkelhäutige Mann stellt sich wieder zurück an seinen Platz.

Kurze Zeit später kommt ein junger Angestellter eilenden Schrittes zur Kasse 3. Den Mann sehend, sagt er:
“Ah, Sie haben den Fiebermesser gefunden? Ich wusste nicht, ob wir Fiebermesser in unserem Sortiment führen, darum ging ich nachfragen, aber ich sehe, Sie wurden fündig. Hoffe, Ihrem Kind geht es bald besser. Kommen Sie doch an Kasse 3. Ich mache sie auf.”

Die Menge weicht wortlos zur Seite, um dem Mann Platz zu machen.

38 Kommentare zu „Wie schnell…Vorurteile im Alltag

  1. Alltagsszenen, mir geht es immer so, wenn ich mal über die Mittagszeit dort bin und die Handwerker mit ihren Brötchen, Würstchen anstehen, ich lasse sie immer vor, selbst wenn ich selber nicht viele Artikel habe, denn sie stehen noch im Arbeitsprozess, ich habe Zeit. Ihr Lächeln ist das schönste Dankeschön. Was das Personal hier bei meinem Feinkosthändler mit L betrifft, es ist kein Riesenmarkt dieses Händlers, so sind Weiblein und Männlein immer freundlich, sie helfen mit Auskünften, manchmal ist es wie früher bei Tante Emma, vielleicht auch, weil sie als Menschen und nicht als Personal wahrgenommen werden.

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      1. Liebe Priska, so klein ist dieser Laden gar nicht, nur wahrscheinlich einer der kleinsten dieses Großhändlers. Die kleine Schar der Deutschen ohne Migrationshintergrund als Kunden ist fast an der Hand abzuzählen, vielleicht ist das auch mit ein Grund für diese untypische Atmosphäre dort.
        Einen lieben Morgengruß an Dich, Karin

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  2. Auf meinem morgendlichen Rundflug um Berlin kehre ich gegen 11.30 Uhr kurz vor dem Büro noch in den Supermarkt ein um noch den Einkauf zu erledigen. Keiner lässt mich vor – ich habe halt auch kein Fieber und meistens etwas mehr als eine Brötchentüte und ein Erfrischungsgetränk im Korb. So kommt ein jugendlicher Arbeits-Schüler nach dem anderen und will vorgelassen werden.

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  3. Das ist krass …. noch krasser ist, das ich das selber in der Schweiz nie erlebt habe.. zu 99% Freundlichkeit.. 16 Jahre .. 1992 bis 2008.. und ich habe es oftmals immer noch schwer mich an die schroffe Art der Norddeutschen wieder zu gewöhnen. Dabei bin ich hier geboren… aber die 16 Jahre haben einfach ihre Spuren hinterlassen… mit Höflichkeit und mercischön.. 🙂
    Gruss
    S.

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  4. Guter Text, liebe Priska!
    Hilfbereitschaft ist leider nicht selbstverständlich, dabei tut sie kein bißchen weh, sondern produziert Lächeln.
    Ich lasse gerne vor, warum auch nicht.

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  5. Dieses so treffende Beispiel habe ich gerade erst gelesen, liebe Priska, sorry.
    Ja, das ist voll aus dem Leben gegriffen. Szenen dieser Art findest du überall, in Läden, in öffentlichen Verkehrsmittel, immer da, wo Menschen zusammenkommen, möglicherweile auch in Eile sind und keine Zeit haben.

    Ein Lächeln, ein wenig Verständnis füreinander und ein wenig Toleranz mehr, wie sehr würde unser Alltag leuchten.

    Herzlich
    Anna-Lena

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  6. Moin.
    Eine gute Geschichte.
    Von meiner „Omma“ habe ich als lüdder Junge gelernt: „Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst.“ – oder wie „Oppa“ anders zu sagen pflegte: „Was du nicht willst, dass man dir tu’, das füg’ auch keinem anderen zu.“ Nein, man sollte Menschen nicht nach ihrem Äußeren beurteilen.
    Es ist viele Jahre her. Mehr als 30. Meine damalige Frau und ich gingen durch die Peiner Fußgängerzone. Im Vorbeigehen grüßte mich ein, ich sag: mal … „schäbig gekleideter Mann“, ich grüßte zurück. Meine Ex meinte zu mir: „Du kennst wohl auch jeden Penner hier in Peine?“ – „Nein wohl weniger, das eben war Richter M. vom hiesigen Amtsgericht.“ Tja, das sind die Geschichten, die das Leben schreibt.
    Viele Grüße – und immer hübsch munter bleiben!

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